Leseprobe – Das Erbe der Tuchfabrik
Leseprobe
1. Neuerungen
„Gute Fahrt, Frau Bergemann.“ Der junge Mann tippte zum Abschied grüßend an seine Mütze. Mit festem Griff umfasste Edith das Steuerrad ihres Wagens. Sie fuhr schnell und ließ ihn, das Tor der Druckerei und die übrige Stadt alsbald hinter sich. Sie wollte keine unnötige Minute verlieren. Ungeduldig legte sie die knapp dreißig Kilometer zwischen Köln und ihrem neuen Zuhause zurück und ihr Herz hüpfte freudig in der Brust, als sie endlich den hohen, schmalen Schlot aus rotem Backstein entdeckte. Er ragte in den azurblauen Himmel und unermüdlich quollen neue dicke Rauchschwaden aus ihm hervor. Glücklich warf Edith einen kurzen Blick auf die Rücksitzbank. Dort transportierte sie eine besondere Fracht, eine, die ihrem Erfolg die Krone aufsetzte und dieses Glück wollte sie unbedingt mit Franz, ihrem Ehemann, teilen. Er hatte sie in ihrer Arbeit von Beginn an nach Leibeskräften unterstützt. Er war es gewesen, der an sie geglaubt hatte. Ihm hatte sie, entgegen aller Vorbehalte, ihr Vertrauen geschenkt und mittlerweile war sie sich sicher, dass sie ihn tatsächlich liebte, dass er mehr als ein Freund, enger Vertrauter und Geschäftspartner war. Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit, das sich von Tag zu Tag intensivierte, sich auch änderte, das gegenseitige Vertrauen stärkte und sich auch in leidenschaftlicher Sehnsucht zeigte, war wunderbar. Was sie nun erlebte, war vollkommen anders als all das, was sie sich in der Zeit vor ihrer Heirat über die Liebe und Ehe ausgemalt hatte. Der frühlingsfrische Fahrtwind stob ihr durch das geöffnete Fenster ins Gesicht. Die Kirschbäume am Straßenrand mit ihren prächtigen rosafarbenen Blüten zogen schnell vorüber. Immer wieder lösten sich einige der Blättchen und tanzten wie kleine Flocken durch die Sonne. Lächelnd passierte Edith das geöffnete schmiedeeiserne Tor, fuhr auf das Fabrikgelände und hielt vor der Tür zum Kontor. Die Nachmittagssonne strahlte warm und war nun, ohne den Fahrtwind, viel deutlicher zu spüren. Genießerisch schloss sie für einen Moment die Augen und erfreute sich am dröhnenden Klang der Maschinen, der aus dem großen Fabrikgebäude drang.
„Ich werde es allen zeigen.“ Sie flüsterte ihre Worte, öffnete die Augen wieder und stieg dann aus dem Wagen.
Friedrich Pfennig, ein weiterer Ingenieur, den sie zu Beginn des Jahres eingestellt hatte, um Franz zu entlasten, da dieser nun notgedrungen mehr Termine mit ihr gemeinsam wahrnehmen musste, trat aus dem Warenlager und hob grüßend die Hand. Er war freundlich und verstand seine Arbeit. Sie selbst kannte sich mittlerweile so detailliert aus, dass sie sich ein Urteil darüber erlauben konnte.
Pfennig arbeitete engagiert, zeigte sich im Gegensatz zu früheren Ingenieuren respektvoll und akzeptierte sie in ihrer Position als Chefin des Unternehmens.
Edith lächelte freundlich und winkte kurz zurück, dann betrat sie das Kontor, wo noch die Sekretärin Bettina und der wortkarge Reichenshagen arbeiteten. Sie hatte darüber nachgedacht, das Kontor wegen des begrenzten Platzes zu verlegen, dieses Vorhaben aber angesichts des nicht unbeträchtlichen Aufwandes auf unbestimmte Zeit verschoben. Zudem boten die Räumlichkeiten auch Vorteile. Sie waren zentral gelegen und ermöglichten einen guten Überblick über das Gelände, das gegenüberliegende Fabrikgebäude und das Eingangstor zum Warenlager.
„Hallo, Bettina, gab es irgendwelche Vorkommnisse während meiner Abwesenheit?“ Edith zog die Lederhandschuhe aus, nahm das Kopftuch ab und schlüpfte aus ihrem dünnen Mantel. Sie hängte alles ordentlich auf den Garderobenständer neben dem Eingang.
„Nein, keine Vorkommnisse. Es ist alles in bester Ordnung.“ Bettina, eine hagere junge Frau, die ihr Haar kurz trug und ihre Umgebung immer sehr aufmerksam wahrnahm, widmete sich gleich wieder ihrer Arbeit.
„Das freut mich.“ Edith seufzte erleichtert und sah sich um. Eine Weile beobachtete sie Bettina beim Tippen. Sollte sie auf Franz oder Reichenshagen warten? Nein.
„Kommen Sie, Bettina. Lassen Sie den Brief, den können Sie später fertig schreiben. Sie müssen mir helfen, die Kartons hineinzutragen.“
Vier der mehrere Kilogramm schweren Kartons wuchteten sie in den angrenzenden Flur, der als Durchgang zum Stofflager und Ablageort für Aktenordner diente. Einen stellten sie auf den Schreibtisch, wo Edith ihn ehrfürchtig öffnete, indem sie vorsichtig den Pappdeckel hochhob.
„Na, was sagen Sie dazu?“ Behutsam nahm sie eines der bedruckten Blätter heraus und gab es weiter. Noch immer fand sich der bekannte Schriftzug Tuchfabrik Geldermann im Briefkopf des neuen Geschäftspapiers, doch darunter war nun der Zusatz Inh. Edith & Franz Bergemann (Ing) zu lesen.
Der Notar und auch Tante Luise hatten einige Male insistieren wollen und darauf hingewiesen, dass die Nennung Ediths an erste Stelle für Misstrauen und Irritationen in der Branche sorgen könnte, doch sie hatte sich nicht beirren lassen. Es war ihr Traum gewesen und die Leitung der Fabrik lag nun einmal in ihrer Hand. Dass Franz sie regelmäßig zu Terminen begleiten musste, um in gewissen Kreisen bestehen zu können, verlangte beiden schon viel ab. Ihm, dem solcherlei Geschäftstreffen und Verhandlungen nicht die geringste Freude bereiteten, und auch Edith, die diese geschäftlichen Zusammentreffen gerne selbstständig abgewickelt hätte, war diese Praktik zuwider. Doch ohne Franz an ihrer Seite zierten sich die Herren, waren unentschlossen und misstrauisch.
Edith wusste, dass sie geduldig sein musste. Das Vertrauen in ihre Fähigkeiten würde wachsen, sobald sie bewiesen hätte, über einen längeren Zeitraum hinweg zuverlässig produzieren und liefern zu können und die Zeichen dafür standen gut. Die Fabrik brachte qualitativ hochwertige Stoffe hervor und noch waren die Auftragsbücher voll. Drei Großaufträge waren im letzten Jahr ohne Probleme auf postalischem Wege verlängert worden und hatten gar keiner Verhandlungen bedurft.
Bettina hielt den neuen Briefbogen in der Hand und betrachtete ihn aufmerksam. „Sehr schön, soll ich sofort auf die neuen umstellen?“ Sie blickte auf ihr halb fertig getipptes Dokument in der Schreibmaschine.
„Aber nein. So eitel sind wir nun auch wieder nicht und ich sehe auch nicht ein, Material zu verschwenden. Wir brauchen den alten Bestand noch auf. Nur dieses eine Blatt hier werde ich schon nutzen.“
Edith legte es auf den Schreibtisch, setzte sich und nahm den neuen Füllfederhalter, ein Weihnachtsgeschenk von Franz, zur Hand. Für einen Moment hielt sie inne, dann schrieb sie in sauberen, geschwungenen Lettern eine Nachricht an ihren Mann und schob den kurzen Brief in ein Kuvert. Als sie aufstand, um sich auf den Weg zum Fabrikgebäude zu machen, öffnete sich knarzend die Tür und der Briefträger Wilkens trat ein.
„Einen schönen guten Tag, die Damen.“ Der Mittvierziger lüftete wie immer seine Uniformmütze, unter der sich sehr dünnes, leicht gewelltes blondes Haar befand und nickte wichtig.
„Guten Tag“, erwiderten Edith und Bettina die Begrüßung gleichzeitig.
Wilkens trat noch einen weiteren Schritt in den Raum und gab den Frauen Zeit, seine Anwesenheit auf sie wirken zu lassen. Edith zog die rechte Augenbraue hoch.
„Die Post ist da“, erklärte der Mann das Offensichtliche schließlich in feierlichem Ton. Dann griff er in seine braune Ledertasche, die er an einem langen Riemen über der Schulter trug, und zog mehrere Briefe hervor.
„Diese hier sind geschäftlich und dieser hier …“, er zückte einen einzelnen Umschlag und hielt ihn in der anderen Hand, „… ist für Sie, Frau Bergemann.“
„Herzlichen Dank, ich nehme sie alle.“ Edith warf ihm ein gewinnendes Lächeln zu, übernahm die Sendungen und führte sie trotz der von Wilkens vorgenommenen sorgfältigen Trennung wieder zu einem Stapel zusammen. Sie unterließ es, ihm zu erklären, dass auch die geschäftlichen Briefe für sie bestimmt waren. Er wusste es nur zu gut, gehörte jedoch zu den Menschen, auf welche ebendiese Situation mehr als befremdlich wirkte. Sobald Franz in der Nähe war, wandte Wilkens sich dankbar an ihn. Ein junger Ingenieur in der Unternehmensleitung schien ihm wohl wesentlich besser geeignet als eine junge Ingenieursgattin. Sie hatte einmal mitbekommen, wie er sich Pfennig gegenüber dazu geäußert hatte.
„Keine Frau ist für unternehmerische Tätigkeit geschaffen. Es fehlt im Allgemeinen einfach an Stärke und Rationalität, Durchsetzungsvermögen und Vernunft. Das ist gemeinhin bekannt und auch nicht weiter tragisch, denn dafür haben diese Geschöpfe doch andere Qualitäten, nicht wahr? Ihr Auge für das Schöne, das Angenehme, ist nicht von der Hand zu weisen. Jeder Mann wünscht sich doch, nach einem anstrengenden Tag in ein hübsch geputztes Heim und die fürsorgenden Arme einer wohlwollenden Frau zurückzukehren. Es liegt nun mal in ihrer Natur, sich um das Wohlergehen ihrer Ehemänner und Kinder zu kümmern. So ist es schon vor dem Krieg gewesen und so wird es auch bleiben.“
Edith schluckte die aufsteigende Verärgerung hinunter. Bettina war derweil aufgestanden und hatte den Stapel mit den Briefen für den Versand aus dem Postausgangskorb geholt, um ihn Wilkens mitzugeben. Dieser sah nun alle Umschläge mit fachmännischem Blick durch, wobei Edith ihm seine Neugier, was die Adressaten anging, deutlich ansah. Dann blickte er auf und lächelte zufrieden.
„Wunderbar, meine Damen. Sie haben alles hübsch ordentlich frankiert.“ Wilkens verstaute die Umschläge und klopfte danach bestätigend auf den Lederdeckel seiner Tasche.
„Sie wissen doch, wir tun, was wir können“, erklärte Bettina mit ernstem und ehrfürchtigem Augenaufschlag. Sie wurde von Edith dabei durch kräftiges Kopfnicken bestätigt.
„Aber natürlich, das weiß ich doch“, brachte der Postbote mit einem breiten, gönnerhaften Lächeln hervor und nahm Haltung an, um sich zu verabschieden.
„Habe die Ehre!“, stieß er hervor, drehte ab und verließ strammen Schrittes das Kontor.
„Habe die Ehre!“, äffte Bettina ihn raunend nach. „Das haben Sie alles hübsch ordentlich frankiert.“ Sie schnitt eine Grimasse und sah Wilkens durch das Fenster nach.
„Schttt“, wies Edith sie mit dem Zeigefinger an den Lippen darauf hin, vorsichtig zu sein, konnte sich das Augenrollen und eine sarkastische Bemerkung dann jedoch selbst nicht verkneifen. „Wir wollen doch nicht, dass Wilkens Sie hört und ärgerlich wird. Er ist immerhin eine Respektsperson und wir brauchen ihn doch, damit er uns immer alles hübsch ordentlich erklärt. Verderben Sie es uns nicht mit ihm.“
Edith trat zu Bettina ans Fenster und sah ebenfalls hinaus, um sich zu versichern, dass er seinen Weg fortsetzte.
„Ja, Respektsperson …“, erwiderte Bettina und begab sich schmunzelnd zurück an ihren Platz, wo sie sich umgehend wieder der Fertigstellung des Schriftstücks in der Schreibmaschine widmete.
Edith sah die Absenderadressen der erhaltenen Post flüchtig durch und legte den kleinen Stapel dann auf ihrem Schreibtisch ab. Die private Post, den Brief, der an sie persönlich gerichtet war, behielt sie in der Hand und zog ihren Brieföffner hervor. Der Umschlag kam aus Hohenfinow, geschickt von keiner geringeren als Ursula von Klein, ihrer Schwester. Ein ganzes Jahr hatten die beiden sich nicht mehr gesehen, zuletzt, als Ursula den jüngsten Sohn des Ministerialrats Heinrich von Klein geheiratet hatte. Gleich darauf war das junge Paar von Berlin ins brandenburgische Hohenfinow übergesiedelt. Wenige Monate später schon, als Edith ihr von der eigenen überraschend bevorstehenden Eheschließung geschrieben und ihre Schwester nach Kerchheim eingeladen hatte, war diese bereits in Umständen gewesen und der Arzt hatte ihr die lange Reise untersagt.
Edith dachte an Ursulas pompöse Hochzeitsfeier, dann an ihre eigene, die in aller Eile und in kleinem Kreis stattgefunden hatte. So war es Edith auch lieb gewesen, doch dass sie auf die Anwesenheit ihrer Schwester hatte verzichten müssen, schmerzte damals wie heute. Sie vermisste Ursula mehr, als sie sich früher hätte vorstellen können.
Obwohl sie in ihrer Rolle als Unternehmerin aufging und kaum Zeit hatte, an andere Dinge zu denken, drängten sich die Gedanken an die Schwester in unerwarteten Momenten in ihr Bewusstsein. So auch jetzt, so sehr, dass ihr Herz sich in der Brust schmerzhaft zusammenzog.
Edith setzte die Spitze des Brieföffners an. Das Papier gab ein feines, leises Geräusch von sich, als sie den Umschlag in einer flüssigen Bewegung zerschnitt. Darin lag ein kleines Blatt, auf dessen vorgedruckten Linien Ursula ihre Zeilen eng und gut leserlich niedergeschrieben hatte. Eilig überflog Edith ihre Worte, stieß mehrfach entzückte Seufzer aus und presste das Blatt anschließend mit einem Lächeln im Gesicht gegen ihre Brust. Sie verharrte einige Sekunden und las den Brief gleich darauf ein zweites Mal. Schließlich prüfte sie das Datum des Poststempels und stellte fest, dass es mehr als zwei Monate für die Zustellung gebraucht hatte. Die leichte Verärgerung darüber wischte sie mit einer schnellen Handbewegung fort und sprang schon wieder auf.
„Ich bin für ein Weilchen drüben“, erklärte sie mit leuchtenden Augen. Zusammen mit Ursulas und dem gerade erst geschriebenen Brief für Franz stürmte sie hinaus.
Sie begab sich auf direktem Weg zum großen Tor für die Warenanlieferung und fand ihren Mann wie erwartet in der Wolferei. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und beobachtete die Maschine. Am Eingangstor zu diesem Bereich blieb Edith stehen. Sie wollte keinen Schmutz hineintragen und rief laut seinen Namen.
Der Lärm in der Halle war beträchtlich, doch er hatte sie gehört, schob den Krempelwolf in den Leerlauf, was umgehend für Linderung sorgte, und kam ihr entgegen. Edith hielt ihm erwartungsvoll den Brief hin. Sobald er bei ihr war, sprudelte sie auch schon los und machte das Lesen für ihn überflüssig.
„Ursi hat geschrieben. Das Baby ist da, schon längst. Es ist ein Junge und Alfred heißt er. Heinrich platzt beinahe vor Stolz und hat schon einen Fotografen bestellt. Sie wird uns so bald wie möglich ein Bild von dem Jungen schicken und schon im Sommer wollen sie uns besuchen kommen. Ist das nicht großartig?“
„Das sind wunderbare Neuigkeiten. Warum haben sie denn nicht schon vor Wochen angerufen oder telegrafiert?“
„Das weiß ich auch nicht. Womöglich dachte Ursula, dass sie dem Ereignis mit einem Brief besser gerecht werden könnte. Vielleicht frage ich sie in dem Antwortbrief, den ich ihr übersenden werde.“ Sie grinste schelmisch. „Immerhin sind wir nun Onkel und Tante, unabhängig von Telefon, Telegramm oder Brief.“
„In der Tat. Fühlt es sich für dich auch seltsam an?“
„Seltsam? Nein. Ursula hat ihr Leben lang von nichts anderem gesprochen. Mir war klar, dass es eines Tages so kommen würde.“
„Auch, was das bedeutet?“
„Wie meinst du das?“ Edith sah Franz interessiert an.
„Wir müssen unsere Rolle ernst nehmen. Zusätzlich zu deinem Brief und der Gratulation sollten wir ihnen ein Geschenk zur Geburt machen. Wie denkst du darüber?“
„Ich nehme an, dass du recht hast. Aber was ist dem Anlass angemessen? Eine Wiege und einen Wagen zum Ausfahren werden sie wohl längst haben und auch sonst alles Notwendige für ein Baby. Ich kenne Ursula, sie wird bereits für drei Kinder im Voraus ausgestattet gewesen sein. Sollen wir Geld schicken und sie selbst etwas Geeignetes aussuchen lassen?“
„Das wäre eine Möglichkeit. Eine andere wäre, dem kleinen Alfred etwas zu schenken, das er nicht braucht und was ihm einfach so Freude bereitet.“
„Nun, er ist ein Baby. Die sind doch eher genügsam, aber es wird uns schon etwas einfallen. Schau mal, ich habe auch einen zweiten Brief dabei.“ Sie wechselte abrupt das Thema, holte das Kuvert mit ihrem eigenen kurzen Schreiben hervor und reichte es ihm.
„Was ist das?“
„Ein Briefumschlag mit einem Brief.“ Edith stöhnte in ungeduldiger Vorfreude und trat dabei von einem Fuß auf den anderen.
„Tatsächlich.“ Franz schmunzelte. „Ich vergesse immer, welch kluge Frau mich geheiratet hat.“ Eine aufrichtige Neckerei, die sie verstand und ihm nicht krummnahm.
„Liest du nun endlich?“
Er nickte, entfaltete das Papier und las laut.
Mein lieber Franz, wir wollen die Feste feiern, wie sie fallen. Lass uns heute Abend ausgehen. Edith
„Du lädst mich zum Abendessen ein? Sehr modern.“ Seine braunen Augen fingen ihren Blick ein, hielten ihn fest und sorgten für eine Beschleunigung ihres Herzschlags. Franz’ Nähe war immer wieder aufregend.
„Schau genau hin. Es gibt etwas zu feiern“, forderte Edith nun mit etwas leiserer Stimme, jedoch ohne weniger Ungeduld. Sie beobachtete, wie er sich den Bogen genauer ansah und atmete glücklich aus, als er erkannte, worum es ging.
„Das neue Briefpapier ist da.“
Sie nickte und platzte beinahe vor Stolz. Wieder ruhten seine Augen auf ihr und versetzten sie in eine angenehme Unruhe.
„Es ist schön, die Freude mit dir zu teilen“, flüsterte sie angetan.
„Wir sollten unbedingt ausgehen. Sobald ich hier fertig bin.“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und zog sie vorsorglich auf. „Gib mir eine Stunde. Dann ist es Viertel vor vier. Die letzten fünfzehn Minuten werden Pfennig und Lindweiler problemlos alleine schaffen.“
Lindweiler war Vorarbeiter in der Fabrik. Ein angenehmer Zeitgenosse, der schon einige Jahre bei Geldermanns angestellt gewesen war und diesen Posten nach Dietrichs Weggang übernommen hatte.
„Abgemacht“, erwiderte Edith in freundlich geschäftlichem Ton. „Ich werde mich noch um die andere Post kümmern und Bettina etwas früher nach Hause schicken.“
„Dann treffen wir uns in einer Stunde. Wohin wollen wir gehen?“
„In ein dem Anlass angemessenes Etablissement. Wie wäre es mit dem Bellevue am Marktplatz? Die Küche ist ausgezeichnet und ich habe große Lust auf ein Glas Champagner. Außerdem beschwert sich dort niemand darüber, dass ich kein Kleid trage“, erklärte sie und hatte damit wohl ihr tragendstes Argument hervorgebracht.
2. Besuch von Tante Luise
„Komm herein, schön, dich zu sehen“, begrüßte Edith ihre Tante. Sie umarmte Luise herzlich, als diese durch die Haustür in den Flur des Wohnhauses getreten war.
„Grüß dich, Edith. Ich komme hoffentlich nicht ungelegen? Vielleicht hätte ich mich doch anmelden sollen.“
„Nein, so weit kommt es noch, dass du dich in deinem eigenen Hause anmelden musst. Du bist hier immer willkommen.“ Edith lächelte und führte Luise durch den Flur ins Wohnzimmer.
„Das weiß ich doch, Liebes“, seufzte diese und sah sich auf dem Weg dorthin wehmütig um. Nur einen kleinen Teil des Mobiliars hatte sie hinüber in ihr neues Zuhause bringen lassen. Der Rest der Einrichtung in diesem Haus erinnerte noch zu deutlich an ihre gemeinsame Zeit mit Leopold.
„Aber die Zeiten haben sich geändert“, fuhr sie fort. „Dies ist nun euer Heim, deines und Franz’. Ich bin in meinem neuen Zuhause gut aufgehoben. Es sind so seltene Tage wie heute, an denen mich die Sehnsucht überkommt. Dann werde ich unruhig und ehe ich mich versehe, stehe ich vor deiner Tür und klopfe.“
„Du weißt, dass du immer willkommen bist, egal wann dich die Sehnsucht quält. Setz dich und trinke einen Kaffee mit mir. Ich habe gerade welchen kochen lassen und wollte die alten Auftragsbücher durchgehen.“ Sie schob Luise einen der Stühle an den Tisch, auf dem sich verschiedene Ordner mit Dokumenten befanden, daneben stand ein Wägelchen mit weiteren Ordnern.
„Du arbeitest hier im Wohnzimmer?“ Luise gab sich kaum Mühe, ihre Überraschung zu verbergen.
Edith nickte und begegnete ihr mit einem entschuldigenden Blick. „Keine Sorge, das ist nur ein vorrübergehender Zustand. Im Kontor läuft das Tagesgeschäft und es mangelt mir dort an Platz, zusätzlich noch die alten Papiere durchzugehen.“
„Gibt es einen besonderen Grund dafür?“ Luise klang sofort besorgt.
„Ja. Ich trage zusammen, wer einmal Kunde war und welche Stoffe gekauft hat. Ich habe mir überlegt, dass wir jetzt, da sich die wirtschaftliche Lage wieder erholt, schauen müssen, welche Geschäfte wir wieder aufnehmen können. Der Aufschwung ist zu spüren und es wird noch besser werden, davon bin ich überzeugt. Es wäre doch großartig, wenn wir ehemalige Kunden erneut gewinnen könnten.“
„Habt ihr Sorgen?“
„Nein, noch nicht. Die Produktion läuft gut und es gibt keinen Grund zur Klage. Aber du kannst dir vorstellen, dass einige unserer Geschäftspartner misstrauisch sind und sich zudem auch noch für klüger halten. Sie wollen die Preise drücken und reden abwertend daher, um mich in Bedrängnis zu bringen. Wenn ich ehemalige Kunden wiedergewinne, können wir uns noch besser positionieren und unseren Umsatz noch etwas erhöhen. Mein Traum ist es, die Fabrik irgendwann zu erweitern. Aber komm, ich will nicht mit dir über Geschäftliches reden, es gibt so viele andere Dinge zu besprechen.“ Edith stapelte die Ordner übereinander und räumte sie auf das kleine Wägelchen. Sie ließ das Hausmädchen den Kaffee und ein paar Plätzchen servieren.
„Nun bin ich gespannt“, begann Tante Luise, als die beiden wieder alleine waren. „Um welche wichtigen Dinge handelt es sich denn? Was hast du für Neuigkeiten zu berichten?“
„Ursula hat geschrieben. Das Kind ist da. Sie und Heinrich sind Eltern eines kräftigen Jungen. Alfred heißt er. Schau hier …“, Edith sprang sofort wieder auf und zog beinahe das Tischtuch mit sich, als sie zum großen Schrank hinüber ging und einen Teddybären hervorholte. „… den haben Franz und ich vor einigen Tagen in der Stadt gekauft. Darüber wird sich der kleine Mann wohl freuen.“ Sie gab den mit Stroh gefütterten Bären an Luise weiter, die ihn genau betrachtete und dann auf ihren Schoß setzte.
„Ein niedliches Spielzeug. Habt ihr etwa vor, nach Hohenfinow zu reisen?“
„Aber nein, wie könnte ich die Fabrik nach nur wenigen Monaten sich selbst überlassen? Ich werde ihn gut verpacken, ein paar nette Zeilen dazu schreiben und die Sendung dann bei der Post aufgeben.“
„Ursula wird sich gewiss darüber freuen und Alfred auch, wenn er alt genug ist. Was schreibt Ursula sonst noch?“
„Sie erholt sich gut und ihr Sohn ist offenbar ein wahrer Wonneproppen, der brav sein Fläschchen trinkt und kaum weint. Sie plant, schon bald wieder Gäste zu einer Gesellschaft einzuladen. Heinrich hat eine gute Stelle und wenn er weiterhin die richtigen Leute kennenlernt, ist ihm ein baldiger Karrieresprung gewiss.“
„Hört, hört. Unsere Ursi ist sehr ambitioniert. Wer hätte das gedacht …“
„Ich. Sie hat immer betont, dass sie eine herausragende Ehefrau und Mutter werden wolle. Es ist solch ein Glück, dass sie ihr Licht nicht mehr unter den Scheffel stellt und sie liebt ihren Heinrich sehr.“
„Ja, ihr beide habt großes Glück, denn du liebst doch deinen Franz auch“, stellte Luise leise fest. Sie ließ ein Stück Zucker in ihren Kaffee fallen und rührte bedächtig um.
„Du hast recht, aber bei uns ist es doch etwas vollkommen anderes als bei Ursula und Heinrich“, gab Edith sehr leise zurück.
„Keine Ehe ist wie die andere, da mach dir mal nichts vor. Du wirst deinen Weg mit ihm gehen, davon bin ich überzeugt.“
Beide Frauen lächelten sich einen Augenblick schweigend an, dann warf Edith einen Blick auf die Aktenordner, woraufhin Luise erneut das Wort ergriff.
„Versprich mir, dass ihr euch trotz der Arbeit und der Vielzahl an Aufgaben in der Fabrik Zeit füreinander nehmt. Euch zwei muss mehr als dieses Unternehmen verbinden.“
„Aber das tut es doch“, warf Edith ein.
„Ja, jetzt. Vergiss es nur nicht und gönne euch hin und wieder eine Auszeit, wenigstens für ein paar Tage. Leopold und ich haben es über all die gemeinsamen Jahre nicht geschafft und am Ende bereut.“
„Wie meinst du das? Ihr führtet doch eine glückliche Ehe.“
„Das stimmt. Aber wir haben auch immer davon geträumt, einmal eine lange gemeinsame Reise zu unternehmen. Letztlich kam immer etwas dazwischen, sodass wir sie wieder und wieder verschoben haben. Dann kam der Krieg und schließlich hatten wir unser Vorhaben sogar vergessen. Vielleicht wäre es etwas anderes gewesen, wenn wir Kinder bekommen hätten, aber so … All unsere Arbeit, unsere Zeit, unsere Kraft steckten wir in dieses Haus, den Garten und die Fabrik.“ Luise strich behutsam mit der flachen Hand über das Tischtuch. Sie räusperte sich verlegen, bevor sie weitersprach, worauf Edith sie eindringlicher ansah.
„Ich habe das Gefühl, da ist noch mehr, was du mir sagen willst.“
„Du täuschst dich nicht. Ich denke, es wird dir nicht gefallen, aber ich frage dich trotzdem: Habt ihr darüber gesprochen, wie es wird, wenn ihr Kinder bekommt?“
Edith hielt für eine Sekunde den Atem an. Luise hatte recht. Die Wendung des Gesprächs gefiel ihr nicht. Langsam nahm sie die Kaffeetasse und führte sie in bemerkenswert ruhiger Bewegung zum Mund. Sie nahm einen Schluck, stellte sie wieder ab und lächelte ihre Tante offen an.
„Du vergisst, mit wem du sprichst, Tante Luise. Ich bin es, Edith. Erinnere dich an meine Worte. Ich wollte niemals heiraten und auch niemals Kinder bekommen.“
„Nun, du wolltest niemals heiraten und nun bist du doch Frau Bergemann. Und erzähle mir nicht, dass die Fabrik dein einziger Beweggrund dafür war. Das nehme ich dir längst nicht mehr ab. Du hast es eben selbst gesagt, Franz und dich verbindet mehr. Alles andere wäre auch ein Jammer.“ Luise schmunzelte und ihre Wangen erröteten in Anbetracht dieser offenen Unterhaltung.
Edith gab nach. „Nun, diesbezüglich muss ich gestehen, dass es sich um ein unerwartetes Wunder und eine glückliche Fügung handelte, dass Franz und ich uns hier begegnet sind und bisher habe ich es keinen Tag bereut.“
Luise lächelte zufrieden über diese erneute Bestätigung.
„Allerdings steht das Thema Kinder auf einem vollkommen anderen Blatt. Ich traue mir zu, eine Fabrik zu leiten, aber Kinder bekommen? Nein. Dafür haben wir doch unsere Ursula.“ Edith schüttelte entschieden den Kopf und fuhr fort. „Ich bin glücklich mit Franz und wir zwei kommen gut miteinander aus. Mit der Arbeit und der Verantwortung sind wir vollkommen beschäftigt. Stell dir nur vor, wie es Ursula ging. Sie war monatelang krank, als sie Alfred erwartete.“
„Das heißt doch nicht, dass es dir ebenso ergehen wird. Leopold und ich hätten gern eine Familie gehabt und über kurz oder lang wird sich auch bei euch Nachwuchs einstellen.“
„Glücklicherweise gibt es Möglichkeiten, dies zu verhindern.“ Edith sprach ihre Worte mit besonderem Nachdruck aus, woraufhin Luise den Teddybären auf ihrem Schoß verlegen betrachtete.
„Natürlich, es war auch nur so ein Gedanke und wir müssen das Thema keinesfalls vertiefen.“ Luise gab Edith das Stofftier wieder zurück und rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum.
Unangenehme Stille breitete sich aus. Erst als Edith aufstand und das Geschenk für den kleinen Alfred wieder im Schrank verstaut hatte, löste sich Luises Anspannung wieder.
„Ursprünglich wollte ich mit dir auch übers Reisen plaudern. Weißt du, Leopold und ich haben große Unternehmungen immer vor uns hergeschoben. Ich möchte nicht, dass es euch genauso ergeht wie uns und du dich eines Tages als Witwe fragst, wie all die Jahre verflogen sind.“
„Keine Sorge, Franz und ich werden gewiss einmal gemeinsam verreisen und ich meine damit nicht nur einen Besuch bei Ursula. Sicherlich werden wir dies nicht so ausschweifend veranstalten wie Mutter und Vater, welche die von Kleins in geradezu unangenehmer Weise wie die Schmeißfliegen umschwirren.“
„Edith, lass sie nur nicht hören, wie du von ihnen sprichst.“
„Keine Sorge. Es wird unter uns bleiben. Aber denk dir, derzeit halten sie sich in Ungarn auf. Sie haben sich ein Abenteuer vorgenommen und wollen das Land vollständig mit der Bahn durchqueren. Anschließend werden sie sich in einem Schlösschen am Balaton wochenlang herrschaftlich von der Aufregung und den Strapazen erholen.“
„Nun, ihr müsst es wohl nicht gleich in diesem Maße übertreiben. Ich dachte an etwas weniger Ausuferndes.“
„Ich verspreche, liebe Tante, dass ich darüber nachdenken und das Gespräch mit Franz suchen werde.“ Edith trank ihren Kaffee aus und schob die Tasse beiseite. „Lass uns nun von dir sprechen. Hast du deinen Traum vom Verreisen denn aufgegeben?“
„Du wirst es nicht glauben, das wäre beinahe der Fall gewesen. Aber nun stellte sich heraus, dass ein Teil der Frauen aus dem Handarbeitskreis gerade darüber debattiert.“
„Wie schön, dass du dich noch immer fleißig mit ihnen triffst.“
Edith erinnerte sich dankbar an den selbstlosen Einsatz und die Unterstützung, die ihr von einigen der Frauen entgegengebracht worden war. Gerade die beiden Juristinnen hatten mit ihrem Vertrag über die Gütertrennung, der Vereinbarung, die Edith im Falle einer Scheidung vor der Mittellosigkeit und dem Verlust der Tuchfabrik bewahrte, Großartiges geleistet. Ohne die Sicherheit dieses Papiers hätte sie sicherlich nicht geheiratet, weder Franz noch irgendjemand anderen. Ich sollte Tante Luise bald wieder einmal dorthin begleiten, ging es Edith durch den Kopf.
„Selbstverständlich. Dieser Austausch ist doch viel wert. Zudem werde ich oft nach dir gefragt und gebe bereitwillig Auskunft. Viele von ihnen haben ein sehr wachsames Auge auf dich und ihre Ohren überall. Falls ihnen Intrigen oder üble Machenschaften gegen die junge Fabrikantin Bergemann zugetragen werden, erfahre ich es umgehend.“
„Muss ich mir Sorgen machen?“ Edith warf ihrer Tante einen prüfenden Blick zu und zog dabei skeptisch die Augenbrauen zusammen.
„Ach, Gott bewahre. Im Moment sieht alles ruhig aus. Aber man kann leider nie wissen. Ich hoffe natürlich, dass dein Aufwand hier gar nicht notwendig ist.“ Luises Blick streifte das Wägelchen mit den Dokumenten.
„Das kann gut sein, wenn man die üblichen Vorurteile und die damit einhergehende Gegenwehr mal außen vorlässt.“ Verärgert stützte Edith sich auf die Unterarme und schürzte die Lippen.
„Genau die waren es doch, vor denen Leopold dich gewarnt hat und ich finde, dass du dich bis jetzt ausgezeichnet bewährst. Fast mache ich mir Sorgen, du könntest dich übernehmen, wenn du deine Pläne, zu expandieren, zu früh in die Tat umsetzt. Lass dir Zeit, dann fügt sich sicherlich alles.“
Luise war nun wieder die sanfte, in sich ruhende Ratgeberin. Trotzdem stand Edith gerade nicht der Sinn danach, dieses Thema mit ihr zu vertiefen.
„Dein Wort in Gottes Ohr. Lass uns doch wieder zu deinen Reiseplänen zurückkehren. Wo soll es denn hingehen?“
„Reisepläne?“ Luise schüttelte verneinend den Kopf. „Die habe ich noch lange nicht. Es sind erst einmal nur so Gedanken, die mir durch den Kopf gehen. Ich muss noch herausfinden, ob es für mich infrage kommen könnte, mich den anderen anzuschließen. Nicht unerheblich ist, um welche Art Reise es sich handelt. Im Moment ist die Rede davon, in den Schwarzwald zu fahren.“
„Schwarzwald“, wiederholte Edith. „Das klingt doch fein. Vielleicht solltest du nicht lange darüber nachdenken. Wie wäre es, wenn du dich spontan entschließen würdest, mitzufahren?“
„Schau einer an, da ist jemand schnell dabei. Du willst mich doch nicht loswerden?“ Edith fing den prüfenden Blick auf, den Luise ihr über den Rand ihrer Brille hinweg zuwarf.
Sofort beschwichtigte sie. „Keinesfalls, liebe Tante. Doch wenn du schon so lange auf eine große Reise wartest, solltest du dich endlich aufmachen und deinen Traum wahr werden lassen. Wenn schon nicht mit Onkel Leopold, dann wenigstens für ihn. Er sähe das sicherlich genauso wie ich.“
„An den Schwarzwald hatten dein Onkel und ich dabei eher nicht gedacht. Eher an die Küste mit Tagen am Meer und den gellenden Schreien der Möwen über den Fischerbooten.“ Luise geriet ins Schwärmen.
„Auch eine schöne Vorstellung. Fang doch erst einmal mit dem Schwarzwald an, bevor du dich wie Magellan ins Abenteuer stürzt. Wenn dir die gemeinsame Reise gefallen hat, schlägst du ihnen das Meer vor. Ich kann mir vorstellen, dass sich Interessentinnen dafür finden werden.“
„Liebe Edith, du hast recht. Ich werde den Anfang machen und mich um die Reise in den Schwarzwald kümmern. Alles andere wird sich finden. Ich danke dir sehr für deine Gesellschaft und ich hoffe, du nimmst mir nicht übel, dass ich meine Nase in deine Angelegenheiten gesteckt und dich von der Arbeit abgehalten habe.“
„Hast du das?“ Edith lächelte nachsichtig. „Ich schätze deinen Rat und deine Fürsorge, liebe Tante, und ich weiß, dass dies alles mit Wohlwollen geschieht. Gräme dich nicht, es war doch ein erquickliches Gespräch.“
Sie erhoben sich von ihren Stühlen und Luise umarmte Edith noch einmal herzlich. „Alles ist so anders ohne Leopold und ohne die Fabrik. Ich habe nun Zeit für all die Dinge, die ich immer vor mir hergeschoben habe. Ich muss auf meine alten Tage noch lernen, damit umzugehen und sie auch in die Tat umzusetzen. Ich verlasse dich also mit einem guten Vorsatz. Gleich morgen fahre ich in die Stadt und lasse mir die Prospekte zeigen.“
Sie waren bereits an der Tür angelangt. Auch für Edith war es ungewohnt, ihre Tante, deren Gast sie früher hier gewesen war, hinauszubegleiten und zu verabschieden. „Danke für deinen Besuch. Komm jederzeit wieder.“
„Danke, für den Kaffee und dein offenes Ohr. Grüße Ursula herzlich von mir … oder nein, ich werde ihr selbst schreiben und zur Geburt gratulieren.“
„Es hat mich gefreut, dass du mich besucht hast.“
„Und jetzt freust du dich, dass ich wieder gehe.“ Luise und Edith waren bereits auf den Hof hinausgetreten.
„Aber doch nur, um mich weiter in die alten Papiere zu vertiefen.“
„Selbstverständlich. Bis bald.“
Edith wartete, bis Luise in ihr Auto gestiegen und vom Gelände gefahren war. Dann sah sie sich prüfend um, nickte zufrieden und begab sich wieder ins Haus.
3. Ein neues Leben in Hohenfinow
„Bis heute Abend, meine liebe Ursi“, verabschiedete sich Heinrich und küsste seine Frau zärtlich auf die Wange. Für einen Moment hielten sie sich bei den Händen, dann setzte Heinrich seinen Hut auf und ließ sie an der Haustür des stattlichen Landhauses zurück. Nach ihrer Heirat und dem damit verbundenen Umzug hatte er eine gute Stelle im Landratsamt angenommen und verwaltete seit kurzem einen eigenen Bezirk. Jeden Morgen um acht verließ er seither pünktlich das Haus und fuhr in seine Amtsstube, nicht aber, ohne zuvor mit seiner Gattin zu frühstücken und ihr seine Zuneigung in Form von kleinen Aufmerksamkeiten zu beweisen.
Ursula genoss ihr neues Leben in Hohenfinow, vor allem, da Heinrich und sie nun, sah man von Alfreds Geburt ab, endlich wieder unter sich waren. Die besondere Zuwendung, mit der ihre Mutter Henriette sie in den Monaten vor und nach der Hochzeit plötzlich bedacht hatte, war anstrengend und leicht als Manöver zu durchschauen gewesen. Sie hatte viel Zeit bei Ursula verbracht und sich mit ihren Ideen gefragt oder ungefragt eingebracht. Zumindest so lange, bis sich neue, interessantere Unternehmungen ergeben hatten. Nach einigen längeren Besuchen in Hohenfinow genossen Doktor Ziegler und seine Gattin ihren gesellschaftlichen Aufstieg nun in vollen Zügen, hauptsächlich in Gesellschaft der von Kleins. Sie kosteten das Zusammensein mit der feinen und einflussreichen Berliner Gesellschaft aus, zu deren engerem Kreis sie nun gehörten.
Schon wieder waren Ursulas Gedanken bei ihrer Mutter, doch ihren Mann hatte sie derweil nicht aus den Augen gelassen. Heinrich, mittlerweile an seinem Wagen angekommen, drehte sich nochmals zu ihr um, lächelte und stieg ein. Ursula winkte ihm mit ihrem Taschentuch nach, bis das schwarze Auto in der Ferne hinter den Alleebäumen verschwunden war. Sie stieß einen Seufzer aus, randvoll gefüllt mit Glück und Sehnsucht. Dann wandte sie sich um und ging zurück ins Wohnhaus.
„Gnädige Frau …“ Im kleinen Foyer kam ihr eines der Dienstmädchen entgegen. Es trug einen Weidenkorb mit Tüchern und Möbelwachs. Ursula nickte und es begab sich in eines der Zimmer, wo es sofort damit begann, die Schränke abzuräumen, um die regelmäßige Reinigung und Pflege des Holzes vorzunehmen.
Es ist doch wunderbar und heimelig geworden, dachte Ursula und sah sich zufrieden um. Sie stand in der Tür, beobachtete das Hausmädchen bei der Arbeit und versank nach und nach in ihren Gedanken.
Im ersten Jahr ihrer Ehe hatte sie sich intensiv um passendes Mobiliar und die Einrichtung des Haushaltes gekümmert. Hierbei war Henriette ihr kaum von der Seite gewichen und hatte darauf bestanden, ihre Wünsche und Vorstellungen einfließen lassen zu dürfen.
„Du hast noch nicht das richtige Auge dafür, aber das ist auch kein Wunder. Das Gefühl für Ästhetik und ansprechende Raumausstattung hat man oder eben nicht. Lass mich das erledigen. Du willst dich doch nicht blamieren …“ So oder ähnlich hatte Henriette sich immer wieder geäußert und dabei honigsüß gelächelt, bis Ursula ihr in einigen Zimmern das Regiment überlassen hatte. Wie hätte sie all das auch allein bewältigen sollen, noch dazu in ihrem Zustand?
Das Landhaus, in dem sie nun mit Heinrich wohnte, war größer, als sie erwartet hatte und wesentlich größer als die Stadtvilla, in der sie aufgewachsen war.
„Letzten Endes bin ich froh, mich nicht alleine damit befassen zu müssen, welche Stücke nun entsorgt, restauriert oder neu angeschafft werden sollten. Außerdem lenkt die Möbelfrage Mutter etwas von der aufgesetzten und ungewohnten Fürsorglichkeit für mich ab“, hatte sie Heinrich eines Abends erschöpft gestanden.
Er hatte nur gelächelt und sie in den Arm genommen. „Soll sie sich austoben. Ich freue mich darauf, wenn wir erst allein sind.“
„Mit dir könnte ich überall wohnen und glücklich sein“, hatte sie leise entgegnet und trotz ihrer Zuversicht hatte es einige Zeit gedauert, bis sich Ursula an ihre neue Heimat gewöhnt und in die neuen Abläufe eingefunden hatte. Das Leben auf dem Barnimer Land war ein vollkommen anderes als in Berlin und auch vollkommen anders als in Kerchheim. Es gab weder Fabriken noch enge Straßen. Im Vergleich zur Hauptstadt zeigte sich die Gegend so unfassbar weit. Die zwischen den Bauernhöfen befindlichen großen Flächen dienten als Acker, Weide oder Wiese. In ihrer neuen Heimat gab es kaum Lärm, es war idyllisch und sie mochte diese Ruhe. Besonders angetan hatte es Ursula der Hohenfinower Wald mit seinen Kiefern. Sie liebte die schlanken hellbraunen Stämme, die dicht an dicht wuchsen und erst in schwindelnder Höhe ihre kleinen Kronen ausbildeten, um ein luftiges Dach zwischen Himmel und Erde zu bilden. Es quietschte und knirschte sonderbar in den Stämmen, wenn der Wind diese in Schwingung brachte. Der lockere Sandboden war immer dicht mit braunen getrockneten Kiefernnadeln bedeckt. An anderen Stellen breitete sich Blaubeerkraut üppig auf dem Waldboden aus. Oft dachte Ursula daran, wieder einmal einen Spaziergang zu unternehmen, so wie damals, als Heinrich und sie hier angekommen waren und auf diese Weise viel Zeit allein miteinander hatten verbringen können.
Nun seufzte sie erneut, fand wieder in die Gegenwart. Das Hausmädchen war noch immer mit seiner Arbeit beschäftigt. Ursula strich sich sanft über den unteren Bauch, in dem sich das zweite Kind ankündigte. Alle ihre Träume und Hoffnungen hatten sich erfüllt. Aus ihr war eine glückliche Ehefrau und Mutter geworden und sie würde ihrem Mann zudem eine hervorragende Dame der Gesellschaft sein.
Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen wandte sie sich ab und ging ins Frühstückszimmer. Dort stand noch immer die Kanne mit dem Morgenkaffee und Ursula beschloss, sich eine weitere Tasse davon zu gönnen. Wollte sie heute überall nach dem Rechten sehen, musste sie sich entsprechend stärken. Sie nahm an dem runden Eichentisch Platz und ließ ihren Blick aus dem Fenster gleiten, während sie an ihrem Getränk nippte.
Das alte Anwesen bestand aus einem großen Haupthaus, welches stattliche zwölf Zimmer zählte. Hinzu kamen die beiden Nebengelasse, in denen die Hausangestellten arbeiteten und zum Teil auch wohnten. Es gab einen Wirtschaftshof mit Stallungen für Pferde, Kühe, Schweine und Federvieh sowie einen Gemüsegarten. Manchmal ertappte sich Ursula dabei, wie sie aus dem Fenster im zweiten Stockwerk hinausstarrte und ihre Gedanken um die Suppenküche in der Tuchfabrik kreisten. Seit sie aus Kerchheim zurückgekehrt war, hatte sie solche Arbeiten nicht mehr erledigt. Es gehörte sich nicht für eine Frau ihres Standes, das wusste sie nur zu gut. Dafür gab es hier auch Köchin und Küchenmädchen und die ließen sich ungern in die Töpfe schauen.
Ursulas Hauptaufgabe bestand in ihrem neuen Leben darin, Kontakte zu den wichtigen Damen und Herren der Gesellschaft zu knüpfen und zu pflegen. Dies gelang am einfachsten mit Einladungen zu kleinen Vergnügungsfesten. Die ersten Veranstaltungen dieser Art hatte Ursula zunächst mit Unterstützung ihrer Mutter, später allein ausgerichtet und bereits wichtige Menschen kennengelernt. Sich mit den Gattinnen hochrangiger Beamter einträglich zu halten, war beinahe bedeutender, als den Beamten selbst zu gefallen, das hatte Henriette ihr immer wieder eingeschärft. Doch als sich Alfred schon wenige Monate nach der Hochzeit angekündigt hatte, musste sie sich zurücknehmen, was ihr anfänglich Kummer bereitet hatte, denn sie wollte ihren Ehemann keinesfalls enttäuschen, sondern ihn in allen Belangen tatkräftig unterstützen. Gerade als Ursula sich in die stetige Anwesenheit ihrer Mutter hineingefunden hatte, war diese wie ausgewechselt gewesen und hatte ihre neuen Pläne verkündet.
„Diese ewig gleichen Feste sind auf Dauer nichts für eine Frau meines Formats. Für dich sind sie genau richtig, aber für mich zu eintönig und unspektakulär. Zudem gibt es eine Vielzahl von Einladungen, die ich bisher zu deinen Gunsten ausgeschlagen habe. Nun ist es an der Zeit, nach Berlin zurückzukehren. Das verstehst du hoffentlich und erwartest nicht von mir, dass ich länger hier verweile. Es wäre doch eine Unverschämtheit, wenn ich jemanden verärgerte. Dieses Opfer zu bringen, wirst du nun wirklich nicht von mir erwarten, Ursula.“ Henriette hatte sich schnell in Erregung geredet, obwohl ihre Tochter nicht ein einziges Widerwort gegeben hatte.
Da war sie wieder, die wahre Henriette Ziegler, so, wie Ursula ihre Mutter von klein auf kannte, wenig empathisch und egozentrisch. Zum Verdruss, den der Ton und die Worte der Mutter in ihr hervorgerufen hatten, hatte sich sehr schnell Erleichterung gesellt. Der Umgang mit Henriette fiel Ursula wesentlich leichter, wenn diese ihrem gewohnten Zynismus freien Lauf ließ.
„Auf Wiedersehen, mein Kind, und schreibe mir. Wir lassen die Post nachsenden, wenn wir auf Reisen sind“, hatte Henriette spitz erklärt und zwei Küsschen links und rechts von Ursulas Gesicht in der Luft platziert. Sie hatte ohne zu zögern noch am selben Tag den Rückweg nach Berlin angetreten.
In den darauffolgenden Tagen war Ursula von einer überwältigenden und andauernden Müdigkeit heimgesucht worden. Doktor Barth, einziger Mediziner im Landkreis und ein gewiss fähiger Mann mit bemerkenswert stoischer Ruhe, hatte Ursula vor allem Schonung verordnet und darauf bestanden, dass sie ihrem Bedürfnis nach Schlaf nachgab.
Auch dies war neu gewesen, bisher war immer ihr Vater, Doktor Bruno Ziegler, für die gesundheitlichen Fragen seiner Tochter zuständig gewesen. Das sah er nun nicht mehr so und auch Ursula war schnell froh darüber gewesen, dass sie für die gesundheitlichen Belange einer verheirateten Frau nicht mehr ihren Vater konsultierte.
Doktor Barth, der während des Krieges auch immer mal wieder in Lazaretten tätig gewesen war, hatte das vierzigste Lebensjahr erreicht. Er sprach wenig bis gar nicht, verrichtete seine Arbeit jedoch zuverlässig und wie Ursula zu ihrer vorübergehenden Bestürzung eines Tages festgestellt hatte, versorgte er nicht nur alle anderen Menschen im Umkreis medizinisch, sondern auch das Vieh! Nichtsdestotrotz gestand sie ein, dass der Doktor ein fähiger Mann war.
Sobald er sich Ursulas Zustand sicher gewesen war, hatte er sie in die betreuerische Obhut der alten Hebamme Magdalena übergeben. Alle Kinder der Gegend wurden von Magdalena auf die Welt geholt. Sie kümmerte sich während der Geburt und in der Zeit des Wochenbetts intensiv um alle Belange der Frauen. Sie tat es, so gut sie konnte, wenn es ihr irgendwie möglich war. Sogleich schweiften Ursulas Gedanken zurück zum letzten Winter.
Es hatte schon den ganzen Tag über geschneit, als die Wehen am frühen Abend eingesetzt hatten. Alfreds Geburt stand bevor und Magdalena war gerufen worden. Sie hatte sich eilig auf den Weg gemacht, war dann aber kurz vor ihrem Ziel auf den Steintreppen des Anwesens gestürzt. Ihr Bein hatte so sehr geschmerzt, dass sie nicht mehr hatte auftreten und die Geburt auch nicht in gewohntem Maße hatte begleiten können. Daher war in der Not Doktor Barth gerufen worden. Dieser hatte zunächst die erste medizinische Versorgung der Hebamme vorgenommen und später unter deren Aufsicht Alfreds Geburt begleitet, die glücklicherweise ohne Komplikationen verlaufen war. Die Versorgung des Neugeborenen und die Aufsicht über die junge Mutter hatte die Hebamme wieder selbst übernommen, während der Doktor geduldig vor dem Zimmer gewartet hatte.
„Ich lasse mir nicht gern ins Handwerk pfuschen. Hebammen bringen Kinder zur Welt, Punktum! Aber ich bin froh, dass unser Herr Doktor so vielseitig ist und man ihn im Ernstfall gebrauchen kann. Das lässt sich von kaum einem anderen Medicus behaupten.“ Dies war, wie Ursula trotz ihres erschöpften Zustands erkannt hatte, ein großes Lob aus dem Mund der Alten gewesen. Bessere Töne würde sie über den Doktor nicht von sich geben.
Nun war Alfred schon fünf Monate alt und sie erwartete bereits das nächste Kind. Ursula hoffte inständig, dass sie die unterbrochene Aufgabe als Gastgeberin wieder aufnehmen und weiterführen konnte, bevor die Schwangerschaft zu beschwerlich wurde. Sie liebte Heinrich. Keinesfalls wollte sie ihn enttäuschen und hatte ihn erst vor wenigen Tagen über ihre Pläne in Kenntnis gesetzt.
„Zwei Feste, eines im Spätsommer und das andere im Herbst, wird es geben. Dann beginnt die Schwarzwildjagd und was gibt es Besseres, als Keiler am Spieß, um die richtigen und wichtigen Leute in unserem Hause zu versammeln?“
„Was habe ich nur für ein Glück“, hatte Heinrich geantwortet und seiner Frau zufrieden das Feld überlassen. Ursula gab sich seither täglich Mühe, ihm nicht zu zeigen, wie müde und erschöpft sie vom Tage war. Sie wollte nicht riskieren, ihn von seiner Arbeit abzulenken und musste mit dieser Angelegenheit selbst fertig werden.
„Hannah, wo ist das Kind?“, rief Ursula das Kindermädchen.
„Alfred schläft in seinem Zimmer. Soll ich ihn holen?“
„Ja, bring ihn ins Nähzimmer. Ich will ihn eine Weile bei mir haben.“
Ursula ging voraus und begann damit, einige Kleidungsstücke zum Ausbessern zurechtzulegen. Hannah schob den schlafenden Alfred in seinem Stubenwagen herbei und verließ das Zimmer wieder. Während Ursula, nun in Gesellschaft ihres Sohnes, die Anziehsachen ausbesserte und auch neue Stücke für ihr Baby herstellte, erlaubte sie sich immer wieder, für ein paar Minuten die Augen zu schließen. Während sie eine Masche nach der anderen für ein Strickjäckchen über die Nadel arbeitete und nichts weiter zu hören war als das Aneinanderschlagen der Stricknadeln und die Stimmen vom Hof, wanderten Ursulas Gedanken zu Edith.
Die Schwestern hatten sich seit Ursulas Vermählung mit Heinrich nicht mehr gesehen. Über das spontane Liebesglück ihrer Schwester und die eilige Eheschließung mit Franz war sie überrascht gewesen, hatte sich aber selbstverständlich für Edith, die gebetsmühlenartig wiederholt hatte, dass sie niemals heiraten wollte, sehr gefreut. Natürlich war auch Ursula im Nachhinein klargeworden, dass diese Entscheidung mit der Tuchfabrik und Onkel Leopolds Tod zusammengehangen hatte. Doch ihre Schwester hatte in ihren Briefen geschworen, dass sie mit Franz glücklich war und es gab für sie keinen Grund, ihr nicht zu glauben.
Seit Ursulas Hochzeit war über ein Jahr vergangen. Eine unfassbar lange Zeit der Trennung für die Schwestern und sie sehnte sich sehr nach Edith. Dennoch hatte sie den letzten Brief ihrer Schwester noch nicht beantwortet. Darin hatte Edith die junge Familie nach Kerchheim eingeladen. Sie und Franz seien noch so sehr mit der Übernahme und Fortführung der Fabrik beschäftigt, hieß es darin, dass sie eine längere Abwesenheit keinesfalls verantworten könnten. Aber wenn Ursula mit Mann und Kind zu Gast wäre, ließen sich sicherlich einige gemeinsame Unternehmungen planen.
„Ach, Alfred, ich vermisse sie auch.“ Ursula flüsterte ihre Worte unvermittelt in die Stille. Sie sah hinüber in den Stubenwagen, in dem ihr Söhnchen immer wieder munter die Arme in die Luft hob. „Wir können keine lange Reise antreten, nicht in meinem Zustand“, erläuterte Ursula weiter und strickte diszipliniert eine Masche nach der anderen.
„Außerdem kann ich dich noch nicht für solch eine lange Zeit allein lassen. Ich will es auch nicht. Zudem kann sich dein Vater eine längere Abwesenheit nicht erlauben, wenn es mit der Karriere vorwärts gehen soll und ich muss ihn dabei unterstützen.“
Alfreds Bewegungen wurden schwungvoller und nun von regelmäßigen Lauten aus seiner kleinen Kehle begleitet.
Daher legte Ursula das Strickzeug ordentlich zur Seite und trat an den Stubenwagen heran. Nein, Sehnsucht hin oder her, sie würde in diesem Jahr nicht nach Kerchheim reisen und hoffte, dass bei Edith die Freude über das Lebensglück ihrer Schwester die Enttäuschung aufwog.
„Wenn deine Tante Edith erst selbst in Umständen ist, wird sie meine Beweggründe sicherlich noch besser nachvollziehen können. Sie sagt zwar etwas anderes, aber vielleicht stellt sich das Mutterglück schneller ein, als sie sich vorstellen kann.“
Alfred begann zu weinen.
„Keine Sorge, Hannah wird gleich hier sein. Dann wirst du neu gewickelt und bekommst dein Fläschchen. Ich werde währenddessen deiner Tante Edith den längst fälligen Brief schreiben.“
Sobald Ursula allein im Nähzimmer war, setzte sie sich in den Sessel und schloss die Augen. Nur ein paar Minuten wollte sie sich ausruhen.