Über die Entstehung von „Die Schwestern der Tuchfabrik“
Die Idee
Ich gehöre in der Eifel zwar immer noch zu den Zugezogenen, das wird sich wahrscheinlich mein Lebtag nicht ändern, aber hier lebe ich länger, als ich je in meinem Leben woanders gelebt habe. In zwei der vorangegangenen Bücher bot mir die Eifel bereits ein wunderbares Setting für meine Geschichten. Das nächste sollte sich mit einem historischen Thema befassen und ebenfalls nahe meiner Wahlheimat spielen. So lief ich mit offenen Augen und Ohren durch die Welt und eines Tages auf dem Weg nach Euskirchen fiel mir der lange, sehr hohe Schornstein der Alten Tuchfabrik ins Auge. Keine Frage, ich hatte ihn schon unzählige Male gesehen, aber plötzlich saß eine Idee in meinem Kopf.
Die Recherche
Während meiner Recherche erfuhr ich Erstaunliches über die Geschichte der Euskirchener Tuchindustrie. Ihre Anfänge lassen sich bis ins 16. Jahrhundert zurückführen. Die rasante industrielle Entwicklung erlebte die Tuchindustrie jedoch von Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts. Fabriken mit ebendiesen langen Schloten zeichneten das Stadtbild.
Oft hatte ich es mir vorgenommen, nun endlich hatte ich einen Grund und besuchte das Rheinische Industriemuseum „Tuchfabrik Müller“ in Euskirchen. Es handelt sich hierbei um eine fast vollständig erhaltene Tuchfabrik. Anfangs nutzte ich diese Ausflüge noch, um parallel meine Kinder und deren Freunde und Freundinnen zu bespaßen. Doch irgendwann hatten sie genug, ich dagegen konnte mich gar nicht sattsehen und genoss die Geräuschkulisse, wenn die alten Maschinen in Gang gebracht wurden, prägte mir den besonderen Geruch der Fabrik ein. Die Mitarbeiterin des LVR, die dort die regelmäßigen Führungen leitete, sah mich manchmal skeptisch an. Vor allem dann, wenn ich die einzige Teilnehmerin war und sie ihren Vortrag für mich wiederholte. Es mag seltsam für sie gewesen sein, schließlich empfahl sie mir zwei wunderbare Lektüren über die Tuchfabrik. Die erwarb ich und zusammen mit meinen persönlichen Eindrücken war es mir möglich tief in die damalige Zeit einzutauchen. Nachdem ich mir so viel fachliches Wissen angeeignet hatte, musste ich mich beim Schreiben oft bremsen, es hätte sonst leicht der Eindruck eines Sachbuches entstehen können. Im Buch erwähne ich Euskirchen nebenbei bemerkt nicht. Hier bleibt es bei einer fiktiven Kleinstadt im Rheinland, südlich von Köln gelegen.
Nicht nur die Tuchindustrie im Rheinland, sondern auch die gesamtdeutsche wirtschaftliche Lage, politische Ereignisse und auch die Hyperinflation musste ich berücksichtigen. Ich ahnte, dass mich die Recherche viel Zeit kosten würde, aber der reale Aufwand hat mich doch überrascht. Trotzdem begeisterte ich mich dafür. Von meinem mangelnden Engagement im schulischen Geschichtsunterricht war nichts mehr zu sehen. Ich war Feuer und Flamme, schaute Dokumentationen, las Bücher, hörte Podcasts. Schnell stellte ich fest, dass es nicht so einfach war, verlässliche Informationen zur Kaufkraft des Geldes zu erhalten. Kein Wunder bei Inflation, Hyperinflation und schließlich Währungsreform. Zu meinem Glück kam ich mit einem Fachmann für alte Münzen und Banknoten in Norddeutschland in Kontakt. Über ihn bezog ich alte Banknoten. So nenne ich nun den Zwanzigtausend-Mark-Schein und einen von eintausend Mark mittels Stempel auf eine Milliarde Mark aufgewerteten Geldschein mein Eigen.
Die Fundstücke
Schließlich bat ich eine Freundin, von der ich ahnte, dass sie einige alte Gegenstände in ihrem Keller aufbewahrt, einmal für mich nachzuschauen, ob sie einen Löffel oder Teller aus der damaligen Zeit für mich hat. „Kein Problem, komm vorbei. Wir schauen gemeinsam.“ Meine kühnsten Erwartungen wurden übertroffen. Von Emaille-Geschirr, Tonkrügen über Besteck mit Perlmuttgriff bis zu bauchigen Glasflaschen, Werkzeugschränken und originalen Einfüllhilfen für Benzin und Öl fand sich fast alles in ihrem Keller. Meine persönlichen Highlights waren eine Porzellanschüssel um 1920 und ein gusseisernes Waffeleisen. Dieses legten die Frauen damals direkt auf die Kochplatte des Küchenofens und füllten den Waffelteig ein, wenn es heiß genug war.
Die Figuren
Als ich die Charaktere der beiden Schwestern entwickelte war es mir wichtig zwei gegensätzliche Persönlichkeiten zu schaffen und deren Position in der Gesellschaft deutlich zu machen. Das Wahlrecht für Frauen war gerade erst beschlossen worden, doch von Gleichberechtigung keine Rede. Die Benachteiligungen durch das Umfeld und die Erwartungen an die Töchter des Mediziners Ziegler sind immer wieder wichtige Gesprächsthemen. Vor allem, weil es trotzdem vereinzelt Frauen gibt, die sich mit Ausdauer, Mut, Wissen und Disziplin durchzusetzen vermögen und sich Gehör verschaffen. Marie Munk und Margarete Berent beispielsweise sind echte historische Persönlichkeiten oder auch Claire Waldoff und noch viele weitere Frauen.
Dies ist für mich vor allem deshalb ein so wichtiges Thema, weil es auch heute noch, hundert Jahre nach der Geschichte um die Schwestern der Tuchfabrik, immer noch enorme Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, wirtschaftliche und gesellschaftliche.